- Oktoberrevolution: Alle Macht den Räten!
- Oktoberrevolution: Alle Macht den Räten!Wohl kaum ein politisches Ereignis hat das 20. Jahrhundert so geprägt wie die russische Oktoberrevolution. Am Ende des Ersten Weltkriegs, im Herbst 1917, stürzte ein bewaffneter Aufstand die Provisorische Regierung, die nach der erzwungenen Abdankung des Zaren im Frühjahr vorübergehend die Staatsgeschäfte übernommen hatte. Die nun ausgerufene »Sozialistische Räterepublik« bekannte sich zum Marxismus als Weltanschauung und wollte Signal und Vorbild für die weltweite Ablösung des »Kapitalismus« durch den »Kommunismus« sein.Wer zurückblickt, dem scheint die Entwicklung des chaotischen Jahres 1917 ganz auf diese Oktobertage zuzulaufen. Doch eine solche Sicht ist einseitig, geprägt vom Wissen um das Kommende. Die Geschichte des »Oktober« und seiner Folgen ist ebenso eine Geschichte der Ungereimtheiten, der Improvisationen, der banalen Zufälle.Mit der Straßenbahn ins Zentrum der MachtAm Abend des 24. Oktober 1917 bestieg in Sankt Petersburg, im Arbeitervorort Wyborg, ein relativ kleiner Mann in Begleitung eines anderen, jüngeren Mannes die Straßenbahn. Das Alter des Kleinen war schwer zu schätzen: Er hatte graue Haare und trug eine Brille, doch die Hälfte des Gesichts war von einem Tuch bedeckt, das er sich um die Wange gebunden hatte. Offenkundig plagten ihn Zahnschmerzen. Während der Fahrt Richtung Innenstadt musste er sich auch noch über die Schaffnerin ärgern. Diese hatte den beiden erklärt, ihr Zug müsse vorzeitig ins Depot zurückkehren; man befürchte Unruhen, einen Anschlag auf die Regierung.Seit Tagen gab es in Sankt Petersburg, das seit Kriegsbeginn 1914 Petrograd hieß, solche Gerüchte: Sie warnten vor einer erneuten Aktion der radikalen Linken, der »Bolschewiki«, die schon einmal, Anfang Juli, nach der Macht gegriffen hatten. Der Versuch war damals gescheitert, das bolschewistische Parteiorgan »Prawda« verboten worden und ihr Führer Wladimir Iljitsch Uljanow, der den Decknamen Lenin trug, untergetaucht. Doch beruhigt hatte sich die Lage seither nicht, und seit dem Spätsommer, seit einem Putschversuch von rechts, waren die Bolschewiki wieder im Aufwind.Wegen der vorzeitigen Rückkehr der Straßenbahnen in die Depots mussten die beiden Nachtschwärmer den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Über die Litejnyj-Brücke erreichten sie den Rand der Innenstadt, bogen nun nach links und stießen hier, in der Nähe des Taurischen Palais, wo das Parlament seinen Sitz hatte, auf eine Regierungspatrouille. Während der Jüngere zu torkeln begann und damit die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich zog, ging der Kleine rasch vorüber. Doch die Soldaten wollten keinen Ärger mit offensichtlich Betrunkenen und ließen beide unbehelligt passieren. So erreichten sie das Smolnyj-Institut, ein ehemaliges Lyzeum für adelige Fräuleins, wo seit dem Sommer der »Sowjet«, der Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, tagte. Als der Kleine im Gebäude die Brille, die graue Perücke und das Tuch ablegte, wurde sichtbar, wer sich dahinter verbarg: der 47-jährige, kahlköpfige Lenin.Der AufstandLenin und sein Begleiter, der finnische Sozialist Eino Rachja, wurden erwartet. Im Smolnyj tagte das Anfang des Monats gegründete Militärische Revolutionskomitee, in dem die Fäden der Aufstandsplanung zusammenliefen. Noch in der Nacht ließ es durch bewaffnete Abteilungen, die Roten Garden, die wichtigsten Brücken, die in die Innenstadt führten, besetzen, am Tag darauf auch die Bahnhöfe, die Telefon- und Telegrafenstation, die Hauptpost, das Elektrizitätswerk, verschiedene Druckereien und die Staatsbank. Flugblätter und Plakate verkündeten der Bevölkerung bereits am Morgen den Sturz der alten Regierung und den Übergang der Macht an das Militärische Revolutionskomitee als ein Organ des Petrograder Sowjet.Schon am 25. Oktober - nach dem am 1. Februar 1918 auch in Russland eingeführten gregorianischen Kalender war es der 7. November - fuhren, so als ob nichts geschehen wäre, die Straßenbahnen wieder, und es gab nicht wenige Beobachter, die auch der neuen Regierung kaum eine Überlebenschance gaben angesichts der anstehenden Probleme. Doch sie unterschätzten die Rührigkeit Lenins. Er bildete eine neue Regierung, den »Rat der Volkskommissare«, der dem Allrussischen Rätekongress und seinem Exekutivkomitee verantwortlich sein sollte - ein erster Schritt bei der Übertragung der Staatsmacht an die Räte. Er bereitete außerdem ein »Dekret über den Frieden« vor, das allen Krieg führenden Staaten die sofortige Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen anbot, und eilig wurde auch ein Agrargesetz entworfen. Dieses erlaubte den Bauern den Zugriff auf das Land des Adels, der Kirche und der Klöster, wobei der Großteil des Textes einem Zeitungsartikel entnommen war, der die bäuerlichen Hauptforderungen zusammengestellt hatte. Die am Abend des 25. Oktober beginnende Session des Allrussischen Rätekongresses billigte diese Entscheidungen. Damit waren fürs Erste die Forderungen der Arbeiter, Bauern und Soldaten befriedigt und der Grundstein für die Machtbehauptung gelegt.Der vermummte Lenin auf dem Weg in den Smolnyj - das Bild hatte Symbolcharakter. Wer Lenin aus den innerparteilichen Debatten vor 1914 kannte, erkannte ihn 1917 kaum wieder. Hatte Lenin vordem den Arbeitern die Fähigkeit abgesprochen, ohne die Partei ein revolutionäres Bewusstsein auszubilden, so pries er seit dem Frühjahr die spontan entstandenen, politisch gänzlich unerfahrenen »Arbeiterräte« als Zellen eines neuen proletarischen Staates. Obwohl sich die Partei als Arbeiterpartei verstand und den bäuerlichen Einzelhöfen seit jeher keine Zukunft gab, versprach sie ihnen nun das Adels-, Kloster- und Kirchenland. Hatte Lenin vordem behauptet, nur als Kaderpartei von Berufsrevolutionären könnten die Bolschewiki überleben, so nahmen sie 1917 jeden auf, der sich mit ihnen solidarisierte, und obwohl Lenin noch 1915/16 gefordert hatte, den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, lockte er die kriegsmüden Soldaten nun mit der schlichten Formel »Frieden«. So wurde die Partei 1917 zu einem populistischen Sammelbecken der Unzufriedenen und versprach allen alles: den Soldaten den Frieden, den Bauern das Land, den Arbeitern die Mitbestimmung in den Fabriken, ihren Räten die Macht und allen eine bessere, sozialistische Zukunft.Dass Marx und Engels sich eine »sozialistische Revolution« im Grunde anders vorgestellt hatten, dass ihr »eigentlicher« Träger, die Industriearbeiterschaft, in Russland noch immer eine kleine Minderheit, die große Mehrheit der Bevölkerung Bauern war, war auch Lenin bewusst. Doch irgendwie hoffte er, mehr noch: er glaubte fest daran, dass der Funke der russischen Revolution rasch auf die fortgeschritteneren Staaten Westeuropas überspringen und alles »im Weltmaßstab« ins Lot bringen würde.Die weit reichenden Folgen der RevolutionZur Vorbereitung der »Weltrevolution« wurde im Frühjahr 1919 die »Kommunistische Internationale« gegründet, ein Zusammenschluss linksradikaler Parteien, dessen Schaltzentrale in Moskau saß. Doch Russland blieb isoliert; so entschloss man sich Mitte der 20er-Jahre, den Sozialismus zunächst »in einem Lande« aufzubauen und nachzuholen, was die bolschewistische Revolution eigentlich vorausgesetzt hatte: die forcierte Industrialisierung, begleitet von der Kollektivierung der Landwirtschaft. Doch der Zwangscharakter der Maßnahmen schreckte eher ab, und so war es nicht deren werbende Wirkung, sondern der Zweite Weltkrieg, der das Land dem erklärten Ziel ein gutes Stück näher brachte: Dank der Erfolge der Roten Armee zur zweiten Supermacht neben den USA aufgestiegen, wurde Moskau zum Zentrum eines Blocks sozialistischer Staaten, deren Kreis sich in den folgenden Jahrzehnten noch beträchtlich erweiterte. Die Welt schien auf Dauer in zwei Lager, »Ost« und »West«, zu zerfallen. Erst die stillen Revolutionen der 80er-Jahre beendeten diesen Zustand; seine vielfältigen Folgen werden uns noch lange begleiten.Prof. Dr. Helmut Altrichter
Universal-Lexikon. 2012.